27. Oktober 2020„Dahinter steckt immer ein Mensch wie du und ich“
Die Begegnungsveranstaltung am 26. Oktober 2020 bei der Volkssolidarität Stadtverband Leipzig e. V. stand ganz im Zeichen einer sich verschärfenden Corona-Situation. Der Teilnehmerkreis war klein, die Tische in weitem Abstand gestellt, und Mund-Nase-Bedeckung war für alle Pflicht. Auch für Bahadir Temiz aus der Türkei und Anas Kazkaz aus Syrien, die sich bereit erklärt hatten, von ihrer Flucht und dem Ankommen in Deutschland zu berichten. Julia Koslowski, die Leiterin des Seniorenbüros Alt-West, die gemeinsam mit uns zu der Veranstaltung eingeladen hatte, hatte eine weitere Überraschung parat: Der Pressesprecher der Leipziger Volkssolidarität hätte die Idee gehabt, ausgerechnet unter den Teilnehmenden der Veranstaltung nach Interviewpartnern für eine Sondersendung im Fernsehen zum Thema Corona und die Risikogruppen zu suchen. So solle die Gesprächsrunde gefilmt werden. Alle zeigten sich schnell einverstanden und blieben gelassen. Besondere Situationen erforderten eben eine besondere Flexibilität.
Die Lebensgeschichten der beiden jungen Männer sorgten für ein Wechselbad der Gefühle. Die Flucht von Herrn Temiz aus Istanbul, der als Anwalt ein normales bürgerliches Leben geführt hatte, gleicht einem Krimi. Spezialisiert auf Menschenrechte, hatte er immer wieder Journalistinnen und Journalisten verteidigt. Nach dem Putschversuch 2016 standen auch für Herrn Temiz Verhaftung und Folter als reale Gefahr im Raum, so musste die Entscheidung, mit seiner Frau das Land zu verlassen, schnell getroffen werden. Ein Visum konnte nicht beschafft werden, der erstbeste Flug führte ausgerechnet nach Südafrika, das für einige Monate die erste Station auf der Flucht wurde. Von dort ging es weiter in den Norden des afrikanischen Kontinents und von dort auf den Balkan, bis die beiden nach fast anderthalb Jahren schließlich in Deutschland ankamen. Er sei sich immer sicher gewesen, dass hier die Menschenrechte geachtet würden, deswegen sollte es Deutschland sein, so Temiz. Als Anwalt im Ausland Fuß zu fassen sei aber unmöglich, die Rechtssysteme seien zu verschieden, eigentlich müsse man mit dem Studium wieder von vorne anfangen. Aber man könne sich auch für Menschenrechte engagieren, ohne Anwalt zu sein, da ist sich Herr Temiz sicher. Das Lernen der neuen Sprache stand sowieso zunächst im Vordergrund. Dafür bekam er ein Stipendium, „im Schriftlichen habe ich bei den Prüfungen sogar muttersprachliches Niveau erreicht“, berichtet er stolz. Nach dem Deutschkurs folgte ein achtmonatiger Englischkurs, „das Masterstudium, für das ich mich jetzt interessiere, ist schließlich auf Englisch“.
Die Schilderungen des jungen Apothekers Kazkaz, wie er mit Kolleginnen und Kollegen unter Lebensgefahr Verbandmaterial und Medikamente für die Verwundeten des Bürgerkriegs in Syrien organisierte und bei den Bombenangriffen Freunde und Verwandte verlor, weckte bei den teilnehmenden Seniorinnen und Senioren Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs, besonders beim ältesten Teilnehmer der Gesprächsrunde, 96 Jahre alt: Es mache ihn fassungslos, dass die Menschen immer noch Krieg gegeneinander führten und nichts gelernt hätten. Zwei Damen konnten dem nur zustimmen: Am meisten leide immer die Zivilbevölkerung, das wüssten sie aus eigener Erfahrung. „Und wie sich Hunger anfühlt, das wissen wir auch.“ Der drohende Militärdienst veranlasste Herrn Kazkaz zur Flucht ins Nachbarland Jordanien, bis zur letzten Minute habe er gewartet. In Jordanien sei die Situation für geflüchtete Syrer sehr schlecht, auch wenn er dort als Apotheker Arbeit gefunden hätte. Kazkaz bemühte sich deshalb um die Ausreise nach Deutschland, wo auch schon seine Cousinen lebten. Herr Kazkaz, wie Herr Temiz nach der Ankunft in Deutschland nach einem Verteilschlüssel dem Bundesland Sachsen zugeteilt, erzählte, wie er über Theaterangebote und kulturelle Aktivitäten allmählich Fuß fasste in der neuen Umgebung, überhaupt seien Kultur und Geschichte seine Steckenpferde. So erfuhren die Teilnehmenden von einer Vielfalt der Sprachen und Religionen, die in seinem Heimatland immer mehr verloren ginge. Etwas wehmütig wurde es, als er über die Wertschätzung älteren Menschen gegenüber sprach: Der Besuch am Wochenende bei den Großeltern sei ein fester Termin in der Familie gewesen, die Großmutter dufte nicht einmal Tee für ihre Gäste machen, „sie sollte sich doch fühlen wie eine Königin“. So ähnlich sei das hierzulande auch einmal gewesen, da könne sich die junge Generation bei den neuen Nachbarn wirklich eine Scheibe abschneiden, fand eine Teilnehmerin.
Einen Wunsch hätten Herr Kazkaz und Herr Temiz, die gut in Deutschland aufgenommen wurden, sich in Leipzig sehr wohl fühlen und inzwischen viele Freunde hier haben: Dass die Medien in Deutschland etwas gründlicher die Lage in ihren Heimatländern recherchieren und besser darstellen würden, wer welche Interessen in der Konfliktregion vertritt. Es sei gar nicht so schwer zu verstehen. Eine Begegnung wie heute finden alle wichtig: Man müsse aufeinander zugehen und sich die einzelnen Lebensgeschichten anhören. Dahinter stecke schließlich immer ein Mensch wie du und ich, wie ein Teilnehmer es formulierte. Ein Anfang ist gemacht. Eine Teilnehmerin verabschiedete sich von Herr Kazkaz: „Wenn ich mir das nächste Mal Tabletten besorgen muss, dann komme ich zu Ihnen in die Apotheke.“ Herr Temiz wurde mit vielen guten Wünschen für sich und seine inzwischen um einen in Deutschland geborenen Sohn vergrößerte Familie bedacht. Alles hinter sich zu lassen und hier ganz neu anzufangen, davor hätten alle in der Gesprächsrunde großen Respekt.
Kerstin Motzer, Beauftragte für Senioren der Stadt Leipzig, die ebenfalls teilgenommen hatte, war zufrieden: Solche Begegnungen würde sie gerne viel öfter initiieren, nur so kann gegenseitiges Verständnis entstehen. Das sehen auch die beiden geflüchteten Männer so: „Wir sind gerne wieder dabei.“